1.1.02. Verfassungsgrundsätze des Verwaltungsrechts

Zu den Verfassungsgrundsätzen des Verwaltungsrechts gehören:

 

1. Der Grundsatz der Gesetzmässigkeit

2. Der Grundsatz des öffentlichen Interesses

3. Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit

4. Der Grundsatz von Treu und Glauben

5. Der Grundsatz der Rechtsgleichheit und das Willkürverbot

 

1. Gesetzmässigkeit

 

Das Gesetzmässigkeitsprinzip bedeutet, dass die Verwaltung nur aufgrund und im Rahmen einer gültigen gesetzlichen Grundlage handeln darf. Notwendig ist eine Regelung, die sich an eine unbestimmte Zahl von Adressaten richtet und eine unbestimmte Zahl von Fällen erfasst und welche Rechte und Pflichten der Bürger bzw. die Bürgerin begründet oder die Organisation, Zuständigkeit oder Aufgaben der Behörden oder das Verfahren regelt. Der Rechtssatz muss genügend bestimmt sein.

Der Grundsatz der Gesetzmässigkeit der Verwaltung erfüllt rechtsstaatliche und demokratische Funktionen:

  1. Gewährleistung von Rechtssicherheit, also der Voraussehbarkeit des Verwaltungshandelns.

  2. Gewährleistung von Rechtsgleichheit, also des willkürfreien Handelns der Verwaltungsbehörden.

  3. Schutz der Freiheit der Bürgerinnen und Bürger vor staatlichen Eingriffen, indem verfassungsmässige Rechte nur eingeschränkt werden können, wenn eine gesetzliche Grundlage dies zulässt.

  4. Demokratische Legitimation des Verwaltungshandelns, indem es sich auf eine nach demokratischen Prinzipien erlassene rechtliche Grundlage stützt.

1.1.   Ermessen

Zwar verlangt das Gesetzmässigkeitsprinzip, dass sich das Verwaltungshandeln auf eine gesetzliche Grundlage stützt. Jedoch kann der Gesetzgeber nicht für alle Fragen, die sich künftig stellen können, konkrete Regelungen treffen. Es braucht deshalb so genannt offene Normen, die den Behörden ein Ermessen einräumen oder unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten.

Ermessen ist ein Entscheidungsspielraum der Verwaltungsbehörden, ein Freiraum also, den der Gesetzgeber den Verwaltungsbehörden gewährt. Diese müssen bei der Ermessensausübung folgende Schranken beachten:

1.2.   Ermessensfehler:

Unangemessenheit:

Ein Entscheid ist unangemessen, wenn er zwar innerhalb des Ermessensspielraums liegt, aber das Ermessen nicht richtig, also unzweckmässig gehandhabt wurde. Eine Rechtsverletzung liegt nicht vor.

Ermessensmissbrauch:

Das Ermessen wird dann missbräuchlich ausgeübt, wenn zwar Voraussetzungen und Schranken des Ermessensrahmens beachtet werden, jedoch unmassgebliche Gesichtspunkte bei der Entscheidung mit einbezogen werden und die Ermessensausübung somit willkürlich und rechtsungleich ist.

Beispiel: Eine Frau wird aufgefordert, eine Ein-Zimmer-Wohnung zu suchen, weil sie mit einer Körpergrösse von 160 cm nicht so viel Platz benötigt.

Ermessensüberschreitung:

Die Behörde übt Ermessen aus, obwohl ihr der anzuwendende Rechtssatz kein Ermessen einräumt. Ermessensüberschreitung liegt auch vor, wenn die Behörde eine Massnahme trifft, die ihr gar nicht zur Wahl stand.

Beispiel: Die Behörde entscheidet, dass nach sechs Monaten Bezugsdauer die Sozialhilfe grundsätzlich (also bei allen Personen) um 15 % gekürzt wird.

Ermessensunterschreitung:

Obwohl die Rechtsnorm eine Ermessensausübung zulässt, verzichtet die Behörde zum Vorneherein ganz oder teilweise darauf.

Beispiel: Eine gemeindeinterne Weisung besagt, dass infolge Finanzkrise keine situationsbedingten Leistungen mehr ausgerichtet werden.

1.3.   Rechtliche Beurteilung von Ermessensfehlern in der Sozialhilfe

Durch das Departement des Innern:

Das Departement des Innern kann den Entscheid der Sozialbehörden auf alle Ermessensfehler hin überprüfen. Er ist nicht auf die blosse Rechtskontrolle beschränkt. Er darf also einen Entscheid auch wegen Unangemessenheit aufheben.

Durch das Verwaltungsgericht:

Dem Verwaltungsgericht ist grundsätzlich nur Rechtskontrolle gestattet, nicht aber Ermessenskontrolle. Es ist ihm daher verwehrt, die Ermessensausübung der Behörde zu überprüfen. Es darf einen Entscheid wegen blosser Unangemessenheit nicht aufheben. Liegen allerdings qualifizierte Ermessensfehler (Ermessensmissbrauch, -überschreitung oder -unterschreitung) vor, muss es den Entscheid aufheben.

2.   Öffentliches Interesse

Das öffentliche Interesse ist die allgemeine Voraussetzung für jede staatliche Tätigkeit. Der Staat hat das Wohl der Allgemeinheit zu schützen und zu fördern und die Anliegen der staatlichen Gemeinschaft wahrzunehmen. Es handelt sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, bei dessen Auslegung der zuständigen Behörde ein gewisser Beurteilungsspielraum zukommt. Das Vorliegen eines bestimmten öffentlichen Interesses allein rechtfertigt staatliches Handeln noch nicht: Das öffentliche Interesse muss die allenfalls entgegenstehenden (öffentlichen oder privaten) Interessen auch überwiegen.

3.   Verhältnismässigkeit

Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit erfordert, dass Verwaltungsmassnahmen ein geeignetes und notwendiges Mittel darstellen, um das zu verwirklichende Ziel zu erreichen, und dass sie in einem vernünftigen Verhältnis zu den Freiheitsbeschränkungen stehen, die dem Bürger auferlegt werden. Ausserdem müssen Verwaltungsmassnahmen in einem öffentlichen Interesse liegen. Drei Elemente müssen kumulativ erfüllt sein, damit der Grundsatz der Verhältnismässigkeit gewahrt ist:

Die Massnahme muss

  • geeignet und

  • erforderlich sein und

  • es muss ein gegenüber den privaten Interessen überwiegendes öffentliches Interesse daran bestehen.

3.1.   Eignung der Massnahme

Die Massnahme muss geeignet sein, das im öffentlichen Interesse angestrebte Ziel zu erreichen. Ungeeignet ist eine Anordnung, wenn sie mit Blick auf das angestrebte Ziel gar keine Wirkungen entfaltet und erst recht dann, wenn sie die Erreichung des Ziels erschwert oder gar verunmöglicht.

3.2.   Erforderlichkeit der Massnahme

Die Massnahme muss in personeller, sachlicher, zeitlicher und räumlicher Hinsicht erforderlich sein:

  • eine ebenso geeignete, aber mildere Massnahme darf nicht auch zur Verwirklichung des öffentlichen Interesses führen,

  • die Anordnung darf in Bezug auf ihren räumlich-örtlichen Geltungsbereich nicht weitergehen, als unbedingt erforderlich,

  • die Anordnung darf nicht länger dauern, als dies für die Erreichung des angestrebten Ziels notwendig ist,

  • generelle Einschränkungen, die alle treffen, sind unzulässig, wenn die verfolgten Ziele durch individuelle Verbote oder Beschränkungen, die beim Vorliegen einer konkreten Gefährdung angeordnet werden, auch erreicht werden können.

3.3.   Abwägung von öffentlichen und betroffenen privaten Interessen

Zwischen dem angestrebten Ziel (Eingriffszweck) und dem Eingriff, den die Massnahme für die betroffenen Privaten zur Folge hat (Eingriffswirkung), muss ein vernünftiges Verhältnis bestehen. Die Massnahme muss durch ein das private Interesse überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt sein.

4.   Grundsatz von Treu und Glauben

Der Grundsatz von Treu und Glauben gebietet ein loyales und vertrauenswürdiges Verhalten im Rechtsverkehr. Für den Bereich des öffentlichen Rechts bedeutet er, dass die Behörden und die Privaten in ihren Rechtsbeziehungen gegenseitig aufeinander Rücksicht zu nehmen haben. Dem Grundsatz von Treu und Glauben werden im Verwaltungsrecht insbesondere der Vertrauensschutz, das Verbot des widersprüchlichen Verhaltens sowie das Verbot des Rechtsmissbrauchs zugeordnet.

4.1.   Vertrauensschutz

Der Grundsatz des Vertrauensschutzes bedeutet, dass der Bürger Anspruch darauf hat, in seinem berechtigten Vertrauen in behördliche Zusicherungen oder in anderes, bestimmte Erwartungen begründendes Verhalten der Behörden geschützt zu werden. Es wird das individuelle Vertrauen einzelner Bürger in eine konkrete Rechtslage geschützt.

4.2.   Verbot widersprüchlichen Verhaltens

Das Verbot bindet sowohl Behörden als auch Private:

  • Behörden dürfen von einem Standpunkt, den sie in einer bestimmten Angelegenheit einmal eingenommen haben, nicht ohne sachlichen Grund abweichen. Haben sich die Privaten auf ein bestimmtes Verhalten der Behörden eingestellt und auf dessen Richtigkeit und Beständigkeit vertrauen dürfen, können zugleich die Grundsätze des Vertrauensschutzes berührt sein.

  • Private dürfen sich im Verkehr mit Verwaltungsbehörden ebenfalls nicht widersprüchlich verhalten. Widersprüchliches Verhalten bleibt ohne rechtlichen Schutz.

4.3.   Verbot des Rechtsmissbrauchs

Das Verbot bindet sowohl Behörden als auch Private. Das Verhalten ist dann rechtsmissbräuchlich, wenn die Inanspruchnahme eines Rechts zu einem stossenden, vom Gesetzgeber nicht gewollten Ergebnis führt.

5.   Rechtgleichheit und Willkürverbot

5.1.   Gleichbehandlungsgebot

Der Anspruch auf Gleichbehandlung verlangt, dass Rechte und Pflichten der Betroffenen nach dem gleichen Massstab festgesetzt werden. Gleiches ist nach Massgabe seiner Gleichheit gleich, Ungleiches nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich zu behandeln.

Es wird also nicht eine absolute Gleichbehandlung verlangt, sondern es muss sachlich differenziert werden, worin die Gleichheit oder die Ungleichheit besteht. Das Rechtsgleichheitsgebot verbietet zum einen unterschiedliche Regelungen, denen keine rechtlich erheblichen Unterscheidungen zugrunde liegen. Zum anderen verbietet es aber auch eine rechtliche Gleichbehandlung von Fällen, die sich tatsächlich unterscheiden.

Das Gleichbehandlungsgebot setzt nicht voraus, dass identische Sachverhalte vorliegen, sondern nur, dass die im Hinblick auf die zu erlassende oder anzuwendende Norm wesentlichen Tatsachen gleich sind.

Es besteht grundsätzlich kein Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht. Der Umstand, dass ein Gesetz in einem Fall nicht oder nicht richtig angewendet worden ist, gibt keinen Anspruch darauf, dass in einem anderen Fall ebenfalls abweichend vom Gesetz entschieden wird.

5.2.   Willkürverbot

Willkür meint grobe, qualifizierte Unrichtigkeit: Willkür bedeutet Entscheiden nach Belieben, ohne Ausrichtung an einem Massstab, an allgemeingültigen Gerechtigkeitsvorstellungen. Ein Willkürakt verletzt elementare Gerechtigkeitserwartungen und entzieht sich jeder vernünftigen Begründung. Willkürliche Rechtsanwendung wird in folgenden Fällen angenommen:

  • bei offensichtlicher Gesetzesverletzung,

  • bei offensichtlicher Missachtung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes oder des tragenden Grundgedankens eines Gesetzes,

  • bei groben Ermessensfehlern,

  • wenn ein Entscheid an einem inneren, nicht auflösbaren Widerspruch leidet,

  • im Falle eines stossenden Widerspruchs zum Gerechtigkeitsgedanken.

Rechtsprechung

VB.2013.00259: Im zu beurteilenden Verfahren ging es um die Anordnung einer Sozialbehörde, dass ein alleinerziehender Vater von drei Kindern um eine 100%-Anstellung zu bemühen hätte. Der Bezirksrat korrigierte die Anordnung und erachtete ein Arbeitspensum von 50% als ausreichend. Durch die Abänderung der Anordnung übte der Bezirksrat eine Ermessenskontrolle aus.

Im Gegensatz zum auf Rechtskontrolle beschränkten Verwaltungsgericht ist die Kognition der Rekursbehörden von Gesetzes wegen umfassend (vgl. § 50 Abs. 1 in Verbindung mit § 20 Abs. 1 lit. a VRG). Diese sind grundsätzlich nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, ihre umfassende Befugnis voll auszuschöpfen und die Ermessensausübung der ihrigen Vorinstanzen zu überprüfen (VB.2012.00817, vgl. auch Art. 77 Abs. 1 der Kantonsverfassung vom 27. Februar 2005 [KV], wonach das Gesetz eine wirksame Überprüfung durch eine Rekursinstanz zu gewährleisten hat.). Ihre Überprüfungsbefugnis wird allerdings insbesondere im geschützten Autonomiebereich der Gemeinden beschränkt. Eine Zurückhaltung bei der Ermessenskontrolle kann sodann auch dann angezeigt sein, wenn persönliche Verhältnisse zu berücksichtigen sind (vgl. Kölz/Bosshart/Röhl, § 20 N. 19, 22).

Dem Bezirksrat stand im zu beurteilenden Fall eine Ermessenskontrolle zu. Im Zusammenhang mit der Frage des dem Beschwerdegegner zumutbaren Umfangs einer Erwerbstätigkeit verfügt die Sozialbehörde zweifelsohne über einen Ermessensspielraum. Dieser entspringt indessen nicht der Gemeindeautonomie, da die Unbestimmtheit der diesbezüglichen Gesetzesbestimmungen ihren Grund nicht primär in der Absicht des Gesetzgebers hat, dass die Sozialhilfe nach lokal unterschiedlichen Massstäben ausgerichtet wird. Die Unbestimmtheit beruht vielmehr darauf, dass darüber im Einzelfall nach sachgerechten Kriterien zu entscheiden ist (vgl. VGr, 19. April 2012, VB.2012.00091, E. 4.1 [nicht publiziert]; VB.2004.00419, E. 3.4, mit weiteren Hinweisen). Er hat sein Ermessen weder über- noch unterschritten noch missbraucht. Das Ermessen zu überprüfen steht dem auf Rechtskontrolle beschränkten Verwaltungsgericht nicht zu (E. 4.3).